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Jetzt gerade, wo ich mir «Lebe nach deinen eigenen Regeln» von Vishen Lakhiani anhöre, wird mir bewusst, wann ich begonnen habe nach meinen eigenen Regeln zu leben. Es war jenes Ereignis, dass mir bewusst machte, was gesellschaftliche Konzepte sind und dass ich mich mit vielen von ihnen nicht mehr identifizieren kann.
Es war ein Freitag, kurz vor Weihnachten. Vor einigen Jahren. Die Tage waren äusserst hektisch gewesen und der vorweihnachtliche Stress war in Allem und Allen, auch in mir selbst, zu spüren. Nach Feierabend traff ich mich mit Freunden, zu einem Bier. Aus dem einen Bier wurden mehrere, der Abend war sehr entspannt. Einiges später als geplant machte ich mich auf den Heimweg. Über die App löste ich wie gewohnt meine Fahrkarte für den Bus. Der entspannten Heimreise von etwas über fünfzehn Minuten stand nichts im Weg. Ich steckte mir die Stöpsel in die Ohren, um dem Lärm im Bus zu entkommen, etwas sanfte Musik zu hören und schloss entspannt die Augen.
Irgendwann wurde ich sachte angeschubst und vor mir standen zwei Personen. Eine Frau und ein Mann. «Ihre Fahrkarte bitte», sprach mich der Mann an. Pflichbewusst entsperrte ich mein Handy, öffnete die Fahrkarten App und strecke ihm den Bildschirm mit dem QR-Code entgegen. Die Frau scannte den Code. «Ihre Fahrkarte ist in Ordnung», nickte sie, «wo ist der Nachtzuschlag?» Ich verstand nicht was sie meinte und zuckte mit den Schultern. Nachtzuschlag? Noch nie gehört … An der nächsten Haltestelle musste ich aussteigen, was ich ihr unmissverständlich zu verstehen gab. Doch daraus wurde nichts. Darüber, was jetzt folgte, möchte ich nicht im Detail berichten. Nur noch erwähnen, dass mich das Ganze über 200 Franken gekostet hat.
Dieses Ereignis hat mir klar vor Augen geführt, wo wir gesellschaftlich stehen. Wir sind hoch technisiert.
- Meine Fahrkarte kann ich über eine App lösen und bezahlen, doch die App zeigt mir – anhand der fortgeschrittenen Tageszeit – nicht einmal an, dass ein Zuschlag fällig ist.
- Es braucht Menschen, die mich überprüfen, obwohl in einem System erfasst wurde, dass ich eine Fahrkarte erworben habe.
- Menschen bedrängen Menschen und machen ihnen unmissverständlich klar, dass das, was sie tun nicht gut und rechtens ist.
- Das darauffolgende Gespräch und der weitere administrative Ablauf waren so demütigend und entwürdigend, dass sie mich ein Wechselbad der Gefühle durchlaufen liessen.
- Ich war schuld, ich habe mich nicht an die Regeln gehalten. Ich muss dafür bestraft werden.
Die Art der Handlung und insbesondere der Ablauf des Ganzen haben etwas in mir ausgelöst und mein künftiges Denken und Handeln nachhaltig geprägt. In mir begannen hunderte, wenn nicht tausende gesellschaftliche Konzepte abzulaufen, hinter denen ich nicht mehr stehen kann und wegen deren Existenz ich mich für meine Gesellschaft schäme.
Ich bin ein guter Mensch, wie fast 100 Prozent der anderen Menschen auch. Obwohl empfindsam, nicht sonderlich empfindlich, ich kann gut was wegstecken. Wir halten gesellschaftliche Konzepte aufrecht, obwohl sie aus technischer Sicht längst überholt sind und aus Sicht der Entwicklung des menschlichen Geistes nicht mehr angebracht erscheinen. Oft geschieht dies nur aus finanziellen Interessen, Konzepte müssen ja schliesslich finanziert werden. Ob sie nun taugen oder nicht.
Dieses Ereignis lies mich das erste Mal erwachen.