“Du hilfst heute Nachmittag dem Fräulein Hauser”, Mutter war aufgebracht, ihre Wangen gerötet, “Du kannst in Deiner Freizeit nicht nur faul rumhängen.”
In unserer Familie herrschte der edle Brauch, vor Weihnachten Gutes zu tun, wo immer dies möglich war. Mutter verlangte uns Kindern viel ab. So erwartete sie auch von mir die üblichen, guten, vorweihnachtlichen Taten.
“Was soll ich denn bei Fräulein Hauser?”, frage ich mürrisch. Eigentlich war ich für den Nachmittag mit Freunden verabredet. Es war Mittwoch und schulfrei.
“Du nimmst ihre Wäsche ab und bringst sie hoch. Danach gehst Du ihr im Haushalt zur Hand. Du weisst doch wie schlecht sie zu Fuss ist und das Treppensteigen macht ihr grosse Mühe.” Allein der Ton in Mutters Stimme gab mir zu verstehen, dass jede Widerrede zwecklos war. Ich würde also den Nachmittag im Hexenloch verbringen. Wir Kinder nannten die Etage über uns so, weil dort Fräulein Hauser und Fräulein Schmid wohnten. Zwei alte Damen die uns nicht geheuer waren. Weiter oben war nur noch der Dachboden. Wir mieden es dort hinauf zu gehen.
Ich machte mich auf den Weg in die Waschküche, wo ich die seltsam riechende, hautfarbene Wäsche von Fräulein Hauser von der Leine nahm und in den Wäschekorb legte. Grosse Büstenhalter waren darunter, Strümpfe, Socken und hässliche, alte Hosen. Es ekelte mich und mir war kalt. “Wenn ich einmal Kinder habe, werden sie das nicht machen müssen”, schwor ich mir, während ich verschlissene Handtücher und fleckige Waschlappen von der Leine nahm.
Den Wäschekorb unter dem Arm stieg ich die vielen Stufen hoch, vorbei an unserer Wohnung, hinauf ins Hexenloch. Ich klopfte an die Tür von Fräulein Hauser. “Es ist offen, komm nur rein”, rief sie. Ich öffnete die Tür. Der Geruch von Mottenkugeln und Salmiakgeist kam mir entgegen. Ich versuchte nicht zu atmen. In der Wohnung war es stickig und warm. Fräulein Hauser stand in der Küche am Herd. Auf dem Tisch brannten vier Kerzen in einem vertrockneten Adventskranz. “Stell die Sachen in die Stube und komm zu mir”, sagte sie, “nett dass du mir hilfst.” Ihr Gesicht war rot und zerfurcht und sie blickte mich aus entzündeten, grauen Augen an. Ich fürchtete mich. “Kehr doch bitte den Boden, ich kann mich kaum bücken”, bat sie. Ich suchte Besen und Schaufel und machte mir damit am Terrazzoboden zu schaffen. Alles war voller Staub. Unter dem Tisch lagen Essensreste und in den Rissen des Terrazzos klebte allerlei Unrat. In den Ecken roch es seltsam; nach ranzigem Fett, nach Tomatenpüree und nach Holundermarmelade. Ich fühlte mich unwohl. Es dauerte ewig, bis ich mit dem Boden fertig war. Ich bekam das Gefühl selber schlecht zu riechen. Wie Fräulein Hauser, die schmuddelige Wohnung und die noch feuchte Wäsche im Wäschekorb.
“Ich mach uns Tee”, sagte Fräulein Hauser und stellte Wasser auf den Herd. “Räum doch bitte die Spülmaschine aus. Dort sind Tassen drin.” Dampf schlug mir entgegen, als ich die Maschine öffnete. Zwischen Gläsern, Besteck und Suppentellern lag eine Klobürste. Sie war nicht sauber geworden. Zwischen den Borsten klebten garstige, braune Klumpen. Das erste Mal übergab ich mich in ihrer Küche, das zweite Mal auf dem Weg nach unten in unsere Wohnung. “Was ist los?” fragte Mutter. Ohne zu antworten rannte ich an ihr vorbei in mein Zimmer und verkroch mich im Bett, wo ich mich ein weiteres Mal übergeben musste. Bis Weihnachten war ich krank. “Grippe”, meinte der Arzt und verordnete Bettruhe.
Inzwischen sind Jahrzehnte vergangen und eigentlich mag ich Weihnachten wieder ganz gern. Ich bin mir aber sicher, dass diese Zeit für mich anders riecht als für alle Menschen sonst auf dieser Welt.
“Weihnächtliche Gerüche”, von Wilfried Strecke, ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig. Veröffentlichung mit Angabe der Quelle ist gestattet. Danke Ralph Weibel für das Lektorat und das Vortragen der Geschichte an der Lesung “Es weihnachtet…” in der August Bar St.Gallen, am 18.12.2012
Beitragsinfo
Von: Wilfried Strecke